Mit grossem Interesse habe ich vor einem Jahr den SART-Blog über „The fate of the torn rotator cuff“ gelesen. Dieser Blog hatte die immer wiederkehrende Frage aufgeworfen, wann degenerative Rotatorenmanschettenrupturen operiert werden sollen und wann nicht. Dabei kam die physiotherapeutische Sicht zu Geltung. Nun stellt sich diese Frage täglich in meiner Schulter-Sprechstunde. Ich erlaube mir deshalb, im Folgenden die orthopädisch- chirurgische Sichtweise zu diesem Thema zu erläutern.
Grundsätzlich sollten degenerative Rotatorenmanschettenrupturen nach ihrer Reparabilität unterschieden werden.
Ob eine (arthroskopische) Rekonstruktion überhaupt möglich ist, richtet sich zunächst nach der fettigen Infiltration der Rotatorenmanschettenmuskulatur [1]. Diese stellt sich in der Regel nach 6-24 Monaten nach Auftreten der Ruptur ein. Ist der Muskel der betroffenen Sehne zu 50% und mehr fettig infiltriert, ist die postoperative Rerupturrate massiv erhöht und das funktionelle Ergebnis schlecht[1]. Auch Patienten mit einer fortgeschrittenen Arthrose oder einer im Röntgen bereits verminderter acromiohumeralen Distanz von weniger als 7mm qualifizieren nicht für eine Rotatorenmanschettenrekonstruktion. Aus meiner Sicht wäre es unethisch diese Patienten einem für sie so aufwendigen Eingriff zu unterziehen.
Ist eine Ruptur prinzipiell operabel, bestimmen die Grösse und Retraktion der Ruptur darüber, ob eine Ruptur weitgehend heilt oder postoperativ rerupturiert. Wenig retrahierte Einsehnenrupturen (Abbildung 1) heilen in ca 88% der Fälle[2], während die Heilungsquote bei Zweisehnenrupturen mit starker Retraktion auf weniger als 40% fällt [3, 4]. Jedoch sind nicht alle Patienten mit Rerupturen symptomatisch.
Mehrere gross angelegte Studien konnten zwischen Patientengruppen mit oder ohne Reruptur keinen Unterschied hinsichtlich Schmerzen und subjektiv im Alltag wahrgenommener Schulterfunktion feststellen [5]. Nur die Kraft in Abduktion war bei Patienten ohne Rerupturen besser. Dieser nur sehr marginale Unterschied kommt unter anderem auch dadurch zustande, dass nicht alle Rerupturen die ganze Rekonstruktion miteinbeziehen.
Wenn also grosse Rupturen eher nicht heilen, sollen wir es dann nicht gleich auf eine Operation verzichten?
Oder anders gefragt, was passiert, wenn wir grosse Rupturen ihrem Schicksal überlassen? Zur Beantwortung dieser Frage wurden Patienten mit konservativ behandelten Rotatorenmanschettenmassenrupturen durchschnittlich 48 Monate nach Diagnosestellung untersucht[6]. Die Rupturen zeigten ein signifikantes Fortschreiten der fettigen Infiltration. 50% wurden dadurch irreparabel. Zudem zeigten die Patienten degenerative Veränderungen im glenohumeralen Gelenk. Durch die Massenruptur kam es zu einer biomechanischen Dekompensation des Schultergelenkes, was zu Scherkräften zwischen Humeruskopf und Glenoid und schliesslich zur Knorpeldestruktion führt.
Und wie steht es mit der Schulterfunktion?
Tritt immer die gefürchtete Pseudoparalyse auf? Hierzu wurden 100 Patienten mit Rotatorenmanschettenmassenrupturen untersucht [7]. Es stellte sich heraus, dass anterosupriore Rupturen, d.h. Rupturen des Supraspinatus und des gesamten Subscapularis, viel häufiger eine Pseudoparalyse aufweisen, als Rupturen des Supra- und Infraspinatus. Zusammenfassend sind Massenrupturen also hinsichtlich Arthroseentwicklung tickende Zeitbomben und eine operative Versorgung ist trotz des hohen Rerupturrisikos sinnvoll. Die Pseudoparalyse stellt sich insbesondere dann ein, wenn die Ruptur anterosuperior zu liegen kommen.
Und wie mit den kleineren Rupturen, die nur den Supraspinatus betreffen?
Hierzu gibt es mehrere Beobachtungsstudien, die aufzeigten, dass diese Rupturen über Jahre stabil bleiben können [8]. Auch die Verfettung schreitet bei diesen Rupturen nicht so schnell fort wie initial befürchtet [8]. Letzteres tritt tendenziell dann ein, wenn die Rupturen sich ausweiten, was aber in einem Beobachtungszeitraum von 2-3 Jahren nur in ca 50% Prozent der Fälle auch tatsächlich eintritt [9]. Rupturausweitungen sind in der Regel auch mit einer Schmerzzunahme verbunden. Noch viel seltener kommt es bei Partialrupturen zu einer Ausdehnung des Risses [9]. Isolierte Supraspinatus(partial)rupturen können also mehrheitlich gemäss ihren Symptomen behandelt werden, da im Gegensatz zu den Massenrupturen wenig Zeitdruck besteht. Problematisch scheinen mir vor allem diejenigen Rupturen, die das Bicepspulley und ggf. den superioren Anteil des Subscapularis miteinbeziehen (Abbildung 2). Diese sind mit einer Instabilität des Biceps vergesellschaftet, deren Symptome konservativ oft schwer behandelbar sind [10].
Zusammenfassend können aus oben genannten Erkenntnissen folgende Schlüsse hinsichtlich der Therapie degenerativer Rotatorenmanschettenrupturen gezogen werden:
- Partialrupturen können primär gemäss ihren Symptomen behandelt werden. Ich stelle nur dann eine Indikation zur Operation, wenn eine konservative Therapie über sechs Monate zu keinem Erfolg geführt hat, oder sich die Symptome unter konservativer Therapie verschlechtern (z.B. durch Ausbildung einer Frozen Shoulder).
- Isolierte transmurale Supraspinatusrupturen können auch primär konservativ behandelt werden. Wenn die konservative Behandlung erfolgreich ist, sollte man die Gefahr der Rupturausweitung im Auge behalten. Ein Alarmsignal ist hierbei ist ein wiederkehrender Schmerz nach vorheriger Beschwerdearmut.
- Bei Zweisehnenrupturen sollte man den Zeitpunkt der Operation nicht verpassen, wenn seitens des Patienten noch ein gewisser funktioneller Anspruch besteht und wenn eine inverse Schulterprothese unbedingt vermieden werden soll.
Andreas Müller, Fachlicher Beirat der SART
PD Dr. med. Andreas Marc Müller
Leitender Arzt, Teamleiter Schulter-/ Ellbogenchirurgie
Standortleiter Bethesdaspital/Klinik für Orthopädie und Traumatologie
Universitätsspital Basel
Spitalstrasse 21
CH-4031 Basel
E-mail: a.mueller@usb.ch
Phone: +41 61 328 78 13
Literatur
[1] Goutallier D, Postel JM, Gleyze P, Leguilloux P, van DS. Influence of cuff muscle fatty degeneration on anatomic and functional outcomes after simple suture of full-thickness tears. J Shoulder Elbow Surg 2003;12:550-4.Abbildung 1: Arthroskopische Naht einer Supraspinatussehnenruptur
[2] Neyton L, Godeneche A, Nove-Josserand L, Carrillon Y, Clechet J, Hardy MB. Arthroscopic suture-bridge repair for small to medium size supraspinatus tear: healing rate and retear pattern. Arthroscopy 2013;29:10-7.
[3] Wu XL, Briggs L, Murrell GA. Intraoperative determinants of rotator cuff repair integrity: an analysis of 500 consecutive repairs. Am J Sports Med 2012;40:2771-6.
[4] Gerber C, Fuchs B, Hodler J. The results of repair of massive tears of the rotator cuff. J Bone Joint Surg Am 2000;82:505-15.
[5] Russell RD, Knight JR, Mulligan E, Khazzam MS. Structural integrity after rotator cuff repair does not correlate with patient function and pain: a meta-analysis. J Bone Joint Surg Am 2014;96:265-71.
[6] Zingg PO, Jost B, Sukthankar A, Buhler M, Pfirrmann CW, Gerber C. Clinical and structural outcomes of nonoperative management of massive rotator cuff tears. J Bone Joint Surg Am 2007;89:1928-34.
[7] Collin P, Matsumura N, Ladermann A, Denard PJ, Walch G. Relationship between massive chronic rotator cuff tear pattern and loss of active shoulder range of motion. J Shoulder Elbow Surg 2014;23:1195-202.
[8] Fucentese SF, von Roll AL, Pfirrmann CW, Gerber C, Jost B. Evolution of nonoperatively treated symptomatic isolated full-thickness supraspinatus tears. J Bone Joint Surg Am 2012;94:801-8.
[9] Safran O, Schroeder J, Bloom R, Weil Y, Milgrom C. Natural history of nonoperatively treated symptomatic rotator cuff tears in patients 60 years old or younger. Am J Sports Med 2011;39:710-4.
[10] Moosmayer S, Tariq R, Stiris M, Smith HJ. The natural history of asymptomatic rotator cuff tears: a three-year follow-up of fifty cases. J Bone Joint Surg Am 2013;95:1249-55.
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