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Schon schmerzfreie Menschen haben vor dem Heben mit rundem Rücken Angst…

Wir sind aus der Sommerpause zurück und steigen kraftvoll in die zweite Jahreshälfte ein. Willkommen zurück! Viel Lesevergnügen und einen guten Einstieg. Die SART Freundschaften wachsen und wir starten unsere Blogserie mit einem Beitrag aus Heidelberg. Die Therapeutengruppe - "Physio meets Science" - verschreibt sich der Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge rund um die Physiotherapie und ist nun Netzwerkpartner der SART.

 

Frühe, einflussreiche In-vivo-Studien zeigten, dass das Heben mit einem runden Rücken einen höheren intradiskalen Druck erzeugt als das Heben mit einem geraden Rücken [Nachemson et al. 1963, 1966, 1966]. Ein höherer intradiskaler Druck wurde als Grund dafür angesehen, dass eine Hebetechnik mit rundem Rücken mit einem erhöhten Risiko für eine Bandscheibenverletzung assoziiert ist [Nachemson et al. 1963, 1966, 1966].

 

Spätere in-vitro-Studien bestätigten diese Ansicht, wofür sprach, dass die Wirbelsäule der untersuchten Kadaver nur eine begrenzte Anzahl von Beugezyklen hatte, bevor ein Bandscheibenversagen auftrat [Callaghan & McGill 2001]. Folglich wurde das „gerade“ Heben als sichere Hebestrategie empfohlen [Hagen et al. 1994, Anderson& Chaffin 1986].

Später in seiner Karriere veröffentlichte Nachemson (1981), der Autor der ursprünglichen In-vivo-Studien, eine Zusammenfassung mehrerer Studien über den intradiskalen Druck und kam zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen den beiden Hebetechniken nur gering ist [Dreischarf et al. 2016, Nachemson 1981] und daher keine Grundlage für ergonomische Interventionen mit dem Ziel eines „geraden“ Hebens besteht (Nachemson 1981, 1985].

 

Jüngste Studien weisen außerdem darauf hin, dass es an In-vivo-Evidenz fehlt [Wai et al. 2010, Dreischarf et al. 2016, Kingma et al. 2010], um das Heben mit geradem statt rundem Rücken zu empfehlen, wenn es darum geht, das Rückenschmerz-Risiko zu reduzieren.

 

Biomechanische Studien haben keine signifikanten Unterschiede für die Wirbelsäulenbelastung und die kompressiven Kräfte zwischen den beiden Körperhaltungen gefunden [Dreischarf et al. 2016, Kingma et al. 2010, Kwon et al. 2011]. Studien konnten auch keinen Zusammenhang zwischen dem Heben und dem Auftreten von Rückenschmerzen nachweisen [van Dieen et al. 1999, Wai et al. 2010 a u. b].

 

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Squat-Hebetechnik (gerader Rücken mit tiefer Kniebeuge) eine weniger effiziente Hebemethode darstellt als ein Heben schwererer Lasten mit einer eher runden Haltung [Holder 2013]. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass schmerzfreie Waldarbeiter ihre Hebestrategien von der Squat-Technik auf eine Hebetechnik mit rundem Rücken umstellen, um im Laufe eines körperlich anstrengenden Tages mit repetitiven Hebebelastungen, Energie einzusparen [Hagen et al. 1994].

 

Dieser Strategiewechsel war nicht von einer Veränderung der lumbalen Belastungsmomente begleitet [Hagen et al. 1994]. Darüber hinaus berichtet eine kürzlich durchgeführte systematische Übersichtsarbeit, dass keine eindeutige Evidenz für ein Training der korrekten Hebetechnik in der Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen bei Krankenschwestern vorliegt (Van Hoof et al. 2018).

 

Zusammenfassend legen die Ergebnisse dieser Studie und anderer Studien nahe, dass schmerzfreie Menschen die grundsätzliche Überzeugung haben, dass der Rücken verletzlich ist und dass das Beugen und Heben mit einem "runden Rücken" gefährlich ist [Darlow et al. 2014, 2015,2016 Bunzli et al. 2015 a+ b].

 

Das Common-sense-Modell der Selbstregulation [Leventhal et al. 1980, 2016] weist darauf hin, dass das vorbestehende Schema einer Person ihre Verhaltensreaktion beeinflusst, wenn sie Schmerzen verspürt. Obwohl derzeit noch etwas spekulativ, könnten die impliziten Überzeugungen bei Menschen mit Rückenschmerzen, die  in Vorgängerstudien aufzeigt werden konnten, bereits bei Gesunden „angelegt“ sein, wie es diese Ergebnisse nahelegen. Kommt es dann zu einer realen Schmerzerfahrung während der Beugung bzw. des Hebens, könnte dies ein „schütz den Rücken“-Schema aktivieren. Das von Menschen mit Schmerzen gezeigte Verhalten wäre dann nicht irrational, sondern eine allgemein verständliche Antwort angesichts der ihnen zugrunde liegenden impliziten Gefahrenverzerrung.

 

Die Ergebnisse dieser Studie können Auswirkungen auf ergonomische Leitlinien und generelle Gesundheitsinformationen haben, die sich auf das Beugen und Heben des Rückens beziehen. Darüber hinaus müssen sich Kliniker der generellen gesellschaftlichen Überzeugungen bewusst sein, da sich dieses vorbestehende Schema darin widerspiegeln kann, wie ein Mensch reagiert, wenn er Schmerzen verspürt und wie er sich in der Behandlung präsentiert. 

 

 

Tobias Morel

Heidelberg

physiomeetsscience@gmail.com