In Vollkontaktsportarten wie Rugby Union (oder kurz 'Rugby'), liegen Verletzungsrate oftmals höher als bei Sportarten, die weniger und/oder leichtere Kontakt-Events beinhalten (Junge et al., 2004). Im Rugby ist das ‘Gedränge’ (auf Englisch ‘Scrum’) beispielsweise ein Ereignis, bei dem Verletzungen auftreten können. Beim Scrum stellen sich acht Spieler beider Mannschaften in Formation auf, um gegeneinander anzutreten (Video oben). Die zwei Spielerformationen versuchen sich dann gegenseitig wegzuschieben, um den Ball zu gewinnen, der dazwischenliegt (Video oben). Dadurch entstehen enorme Kompressionskräfte von bis zu 9.8 kN (Cazzola et al., 2015), die sich auf die Wirbelsäule der Spieler auswirken. Mit einer solchen Kraft können die Spieler mit der Antriebskraft einer Formel-1 konkurrieren. Siehe unten im Video.
Die Spieler der ersten Reihe (‘front-row’) sind besonders stark von diesen Kräften betroffen
So ist es wenig überraschend, dass sie die Spieler sind, die beim Scrum am häufigsten von Wirbelsäulenverletzungen betroffen sind (Trewartha et al., 2015).
Forschung im Bereich der Sportwisssenschaft, -medizin/-physiotherapie, und –biomechanik hilft oftmals Verletzungsmechanismen zu verstehen und präventive Massnahmen zu gestalten, um die Verletzungsrate solcher Vollkontaktsportarten senken zu können (z.B. Cazzola et al., 2013). Zum Beispiel, basierend auf einer Computersimulation, hat ein Forscherteam postuliert, dass beim Scrum eine Flexionskomponente von ≥20° das Risiko für eine Halswirbelsäulenverletzung drastisch erhöht (Silvestros et al., 2017). Dies zeigt die Wichtigkeit von Untersuchungen der Bewegungsmuster der Halswirbelsäule (HWS) beim Scrum auf, um die Verletzungsmechanismen zu verstehen. So berichtet dieser Artikel von einer Untersuchung der Bewegungsmuster der HWS bei 11 Rugbyspieler während einer Scrum-Simulation.
Wie beim Rugbytraining weit verbreitet, führten die Studienteilnehmer die Scrum-Technik alleine durch und unter verschiedenen Bedingungen. Einerseits
- (a) führten sie die Technik gegen ein Trainingsgerät, das statisch und gepolstert ist (Bild unten, links). Anderseits
- (b) führten die Spieler die Technik gegen zwei weiteren Spielern, die die Gegenmannschaft simulierten (Bild 2 & 1. Video ).
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten, dass die HWS
- unter der Bedingung a) (Trainingsgerät) deutlich in Extension war (ca. 30°). Dies ist insofern interessant, als das Trainingsgerät dem Kopf keine physische Begrenzung in die Extension bietet.
- Unter der Bedingung b) (Gegenspieler) war die HWS deutlich in Flexion (8-17°).
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Spieler die HWS unter Bedingungen a) und b) anders halten. Obwohl eine HWS-Extension einen protektiven Effekt hat (wie auch die Präventionskampagne ‘heads-up’ im American Football postuliert (Torg et al., 1990), zwingt die verzahnte Position mit den Gegenspielern eine gewisse HWS-Flexion unter der Bedingung b). Umgekehrt, beim Durchführen der Scrum-Technik mit dem Trainingsgerät können Spieler ein falsches Gefühl einer ‘richtigen Technik’ erhalten, ohne zu merken, dass die HWS in Extension ist.
Die Bedeutung dieser Ergebnisse ist vielfältig
Erstens
Coaches müssen verstehen, dass das Scrum-Trainingsgerät die HWS nur sehr schlecht auf eine echte Spielsituation vorbereitet. Beim Gebrauch des Geräts müssen Coaches spezifisch darauf achten, dass die Spieler eine korrekte HWS-Haltung haben.
Zweitens
Sport- und Physiotherapeuten werden ermutigt, bei der Rehabilitation/Behandlung eines front-row Rugbyspielers, die neutrale HWS-Haltung unter verschiedenen Bedingungen zu üben und die Extensoren den HWS zu kräftigen.
Weiter zeigen die Ergebnisse der Untersuchung, dass unter der Bedingung b) die maximale Flexionswerte der HWS (17°) beim Aufprall mit den Gegnern erreicht wird. Dieser Moment ist auch der, bei dem die höchsten Kompressionskräfte gemessen werden (Cazzola et al., 2013). Wichtig ist hierbei zu bedenken, dass Bedingung b) zwar näher an der echten Spielbedingung ist als Bedingung a), aber trotzdem noch 13 Spieler vermisst. Demnach ist es wahrscheinlich, dass in einer echten Spielsituation durch höhere Kompressionskräfte, höhere Flexionswerte erreicht werden.
Es ist also tatsächlich denkbar, dass die Kombination aus Flexion ≥20° und der erhöhten Kompressionskräfte beim Aufprall das eigentliche Verletzungsrisiko darstellt.
Zudem habe die Ergebnisse gezeigt, dass sich die Bewegungsrichtung der HWS in einem Zeitfenster von 0.4s um den Moment des Aufpralls von einer Flexion zu einer Extension ändert, aber die Richtungsänderung im Schnitt 22ms nach dem Aufprall stattfindet. Die Bewegungsrichtung ist wichtig, weil sie zusätzlich die Ausrichtung der einzelnen Wirbelkörper beeinflusst (Anderst et al., 2013). So könnte die Bewegungsrichtung in die Flexion bis 22ms nach dem Aufprall sogar eine Unterschätzung der tatsächlichen Ausrichtung zwischen den Wirbelkörper bedeuten und weitere Aufschlüsse zu den Verletzungsmechanismen geben. Hierfür braucht es allerdings weitere Untersuchungen, allenfalls unter strengeren Laborbedingungen und mittels röntgenologischen Messmethoden.
Abschliessend sollte erwähnt werden, dass die Flexionskomponente der HWS beim Scrum durch die verzahnte Position der Spieler praktisch nicht zu vermeiden ist. Deshalb sind die Autoren der Studie der Überzeugung, dass der Scrum nicht nur durch sportstechnische und therapeutische Massnahmen ‘sicherer’ gemacht werden sollte, sondern auch durch Änderungen in den Spielregeln.
Weniger Verletzungen durch Anpassen der Spielregeln?
Im Jahre 2013 wurden die Spielregeln beispielsweise schon einmal modifiziert, indem die Distanz zwischen den beiden Spielerformationen auf eine Armlänge reduziert wurde. Durch die verkürzte Distanz wird weniger Aufprallgeschwindigkeit generiert und die maximalen Kompressionskräfte werden reduziert (Preatoni et al., 2015). Es wäre vorstellbar, die Regeln so weiter zu ändern, dass die Spieler erst Schub generieren dürfen, wenn die zwei Spielerformationen in verzahnter Position sind. So wäre der kompetitive und kämpferische Aspekt des Scrum bewahrt, aber die trotzdem noch massiven Kompressionskräfte beim Aufprall nicht vorhanden.
*Adrien Cerrito ist seit 2010 Physiotherapeut und hat sein PhD an der Griffith University in Gold Coast (Australien) 2018 abgeschlossen. Das Thema der Thesis war die Entwicklung einer Methode für die Messung der Wirbelsäulenkinematik bei Rugbyspielern beim Scrum und deren Anwendung zur Analyse der Verletzungsmechanismen. Seit 2019 arbeitet er als Physiotherapeut im Altius Swiss Sportmed Center in Rheinfelden und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsspital Basel.
Referenzen
- Anderst, Donaldson, Lee & Kang. Cervical spine intervertebral kinematics with respect to the head are different during flexion and extension motions. J Biomech 2013; 46(8):1471-1475.
- Cazzola, Preatoni, Stokes, England & Trewartha. A modified prebind engagement process reduces biomechanical loading on front row players during scrummaging: a cross-sectional study of 11 elite teams. Br J Sports Med 2015; 49:541-546.
- Junge, Cheung, & Dvorak. Injuries in youth amateur soccer and rugby players — comparison of incidence and characteristics. Br J Sports Med 2004; 38:168-172.
- Preatoni, Cazzola, Stokes, England & Trewartha. Pre-binding prior to full engagement improves loading conditions for front-row players in contested Rugby Union scrums. Scand J Med Sci Sports 2016; 26:1398-1407.
- Silvestros & Cazzola. Cervical spine injury in rugby scrummaging: is buckling the most likely injury mechanisms? In Book of abstracts for the XVI International Symposium on Computer Simulation in Biomechanics. XVI International Symposium on Computer Simulation in Biomechanics, Coolangatta, Australia, 20/07/17.
- Torg, Vegso, O’Neill & Sennett. The epidemiologic, pathologic, biomechanical, and cinematographic analysis of football-induced cervical spine trauma. Am J Sports Med 1990; 18(1):50-57.
- Trewartha, Preatoni, England & Stokes. Injury and biomechanical perspectives on the rugby scrum: a review of the literature. Br J Sports Med 2015; 49:425-433.