
Anmerkung der SART-Redaktion:
Dieser Beitrag reflektiert die individuelle Einschätzung und den fachlichen Behandlungsansatz des Autors und stellt keine offizielle Position oder Empfehlung der SART dar

In unserem Alltag sind es oft gute Freunde, die uns wirklich verstehen. Sie wissen, was uns antreibt, was uns Sorgen bereitet, und wie wir wirklich ticken.
Als Therapeuten können wir uns fragen: Wie viel besser könnten wir unsere Patienten unterstützen, wenn wir sie ebenso gut verstehen würden? Natürlich geht es nicht darum, mit jedem Patienten eine persönliche Freundschaft aufzubauen – das wäre weder realistisch noch professionell. Vielmehr bedeutet es, echtes Interesse für den Menschen hinter den Symptomen zu zeigen. Dieses Interesse schafft die Grundlage für eine vertrauensvolle, respektvolle und wirksame therapeutische Beziehung. So trägt eine starke Patienten-Therapeut-Beziehung nachweislich zu einer höheren Return-to-Sport-Rate bei.[1]
Der erste Eindruck zählt
Wie gewinnt man einen Freund? Der erste Eindruck ist entscheidend und es gibt bekannterweise keine zweite Chance dafür. Studien zeigen, dass bei einem ersten Treffen innerhalb von 1/10-Sekunde der erste Eindruck entsteht.[2] Dabei handelt es sich auch um nonverbale Gesten, wie Lächeln, Blickkontakt, aufrechte Haltung, welche auch im weiteren Verlauf bestehen bleiben sollten.
Ein herzliches Willkommen und eine kurze Vorstellung schaffen eine angenehme Atmosphäre und bilden die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Die Anamnese: Mehr als ein Interview
Als nächsten Schritt kommt es zur Anamnese, die weit mehr ist als nur das Abarbeiten eines Fragebogens – sie ist der Moment, in dem der Patient seine Geschichte erzählen darf. Dabei sollte der Fokus darauf liegen, den Patienten dazu zu ermutigen, frei zu sprechen. Offene Fragen wie „Erzähl mir deine Geschichte.“ oder „Was bringt dich zu mir?“ geben dem Patienten diese Möglichkeit. Wir starten sozusagen mit einem „leeren Blatt Papier“ und der Patienten darf seine Sicht der Dinge unvoreingenommen schildern, ohne einen Fragekatalog abzuarbeiten.
Während des Gesprächs ist es essenziell, aufmerksam zuzuhören und den Patienten nicht zu unterbrechen. Untersuchungen zeigen, dass Patienten durchschnittlich nach 120 Sekunden ihr Anfangsstatement abschliessen, in dem bereits wertvolle Informationen enthalten sind.[3] Dem gegenüber steht die oft übliche Praxis, bereits nach etwa 23 Sekunden die erste Nachfrage zu stellen – eine Vorgehensweise, die wichtige Details und Nuancen übersehen kann.[4] Erst nachdem der Patient ausgesprochen hat, sollte der Therapeut mit Fragen beginnen. Dabei sollten diese offen formuliert sein, um möglichst viele Freiraum für den Patienten zu geben.
Eine wirkungsvolle Technik ist es, die Wörter und die Sprache des Patienten bewusst aufzugreifen. Das zeigt nicht nur, dass ihm wirklich zugehört wurde, sondern hilft auch, eine gemeinsame Sprache zu finden, die Vertrauen schafft.[5] Es kann hilfreich sein, die Geschichte des Patienten kurz zusammenzufassen und ihn zu bitten, Korrekturen vorzunehmen, falls etwas falsch verstanden wurde. Anschliessend kann der Therapeut erklären, dass er dies kurz notiert, bevor er sich dem Laptop zuwendet.
Diese Form des aktiven Zuhörens ist eine zentrale Methode, um eine kooperative und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, die auch als therapeutische Allianz bezeichnet wird. Nonverbale Signale wie leichtes Nicken, zustimmende Laute oder ein mitfühlender Gesichtsausdruck verstärken diesen Effekt und tragen dazu bei, das Gespräch auf Augenhöhe zu führen. So wird die Anamnese zu einem Schlüssel für den Aufbau einer empathischen und effektiven Patienten-Therapeuten-Beziehung.

Wichtigkeit der therapeutischen Allianz
Studien haben gezeigt, dass eine starke therapeutische Beziehung mit besseren Behandlungsergebnissen einhergeht, wie z. B. einer verringerten Schmerzintensität und einer verbesserten Funktion bei Erkrankungen des Bewegungsapparates.[6] [7] Zudem ermutigt eine therapeutische Beziehung den Patienten aktiv am Rehabilitationsprozess teil zu nehmen.[8] [9] Das bringt uns auf einen weiteren Aspekt der die therapeutische Beziehung stärken kann: gemeinsame Entscheidungsfindung oder auch shared decision making genannt. Dabei handelt es sich um einen kollaborativen Prozess, bei dem der Patient mit uns Therapeuten zusammenarbeiten, um fundierte Entscheidungen über Behandlungspläne zu treffen. Diese aktive Beteiligung wünschen sich die Patienten deutlich häufiger, als das aktuell in der Praxis der Fall ist.[10] Und dass obwohl wir wissen, dass dadurch die Adhärenz gefördert wird, was wiederum einen positiven Einfluss auf das Therapieergebnis hat.[11]
Den Patienten verstehen
Wisse, was dein Patient glaubt, war eine Aussage, die wir im letzten Blog schon genannt haben. Dies kann auch in der Anamnese mit gezielten Fragen herausgefunden werden, um dann dem Patienten im weiteren Verlauf einen individuellen Therapieplan aufzuzeigen:
„Wenn du dein eigener Arzt wärst, was würdest du dir für eine Diagnose geben?“
„Was glaubst du, braucht es, damit es dir besser geht?“
„Welche Erwartungen hast du an die Therapie?“
Das sind Fragen, die innerhalb der Anamnese sehr sinnvoll sein können. Den sie geben wertvolle Einblicke in die Gedankenwelt des Patienten. Dabei geht es nicht darum, dass man im Anschluss genau das macht, was der Patient will, jedoch sollte man das auch nicht vernachlässigen, was wir in einem späteren Blog aufgreifen werden.
Auch Sorgen und Ängste sollten offen angesprochen werden:
- „Machst du dir Sorgen?“
- „Glaubst du, dass diese Übungen dir schaden?“
Wenn wir diese Aspekte in der weiteren Behandlung integrieren, so ist die Gefahr geringer, dass wir dem Patienten Anweisungen geben, die für ihn nicht passend sind. Das wiederum wäre negativ für die therapeutische Beziehung.[12]
Innere Haltung: Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Ansatz
Dieses Vorgehen – von der Art der Fragen bis hin zu unserem Verhalten – spiegelt unsere innere Einstellung wider. Wie wir das Verhältnis zu unseren Patienten definieren, prägt die therapeutische Beziehung massgeblich. Sehen wir uns als allein-Wissenden oder als Begleiter und Unterstützer? Begenen wir auf Augenhöhe oder sind wir die Experten mit fachlichem Hintergrund? Diese Grundhaltung entscheidet darüber, wie wir den Patienten begegnen und welche Fragen wir stellen werden.
Die Beziehung zwischen Therapeut lebt dabei von Empathie, Interesse und gegenseitigem Verständnis. Wenn wir uns Zeit nehmen, zuzuhören und den Patienten wirklich kennenzulernen, legen wir den Grundstein für eine erfolgreiche Behandlung – und vielleicht sogar für eine Zusammenarbeit, die an eine gute Freundschaft erinnert.
[1] Moussa MK, Lefèvre N, Valentin E, et al (2024) Association of Patient-Surgeon and Patient–Physical Therapist Relationships With Return to Sports After ACL Reconstruction: The Untested Dimension in Outcome Assessments. Orthopaedic Journal of Sports Medicine 12:23259671241254749. https://doi.org/10.1177/23259671241254749
[2] Janine Willis, Alexander Todorov: First impressions: Making up your mind after 100 ms exposure to a face. In: Psychological Science. Band 17, Nr. 7, 2006, S. 592–598, doi:10.1111/j.1467-9280.2006.01750.x.
[3] Langewitz, W. „Spontaneous talking time at start of consultation in outpatient clinic: cohort study“. BMJ 325, Nr. 7366 (28. September 2002): 682–83. https://doi.org/10.1136/bmj.325.7366.682.
[4] Marvel, M. Kim, Ronald M. Epstein, Kristine Flowers, und Howard B. Beckman. „Soliciting the Patient’s Agenda: Have We Improved?“ JAMA 281, Nr. 3 (20. Januar 1999): 283. https://doi.org/10.1001/jama.281.3.283.
[5] Bohn, Stephanie. „NLP im Arzt-Patienten-Gespräch - Theorie, Praxis und Effekte“, 2004
[6] M, Holmes., Amanda, Scott., James, Camarinos., Lee, N., Marinko., Steven, M., George. (2022). 4. Working Alliance Inventory (WAI) and its relationship to patient-reported outcomes in painful musculoskeletal conditions. Disability and Rehabilitation, doi: 10.1080/09638288.2022.2060337
[7] Timothy, J., Flowers. (2022). 5. An exploration of clinical variables that enhance therapeutic alliance in patients seeking care for musculoskeletal pain: A mixed methods approach. Musculoskeletal Care, doi: 10.1002/msc.1615
[8] C, Fewins-Scales., Raymond, Chau. (2024). 2. Patients’ and physiotherapists’ perspectives of treatment outcomes and experiences in primary care episodes of low back pain. Physiotherapy, doi: 10.1016/j.physio.2024.04.093
[9] Monica, Unsgaard-Tøndel., Monica, Unsgaard-Tøndel., Sylvia, Söderström. (2021). 6. Therapeutic Alliance: Patients' Expectations Before and Experiences After Physical Therapy for Low Back Pain-A Qualitative Study With 6-Month Follow-Up.. Physical Therapy, doi: 10.1093/PTJ/PZAB187
10] Tatsuya, Ogawa., Shuhei, Fujimoto., Kyohei, Omon., Tomoya, Ishigaki., Shu, Morioka. (2023). 3. Shared decision-making in physiotherapy: a cross-sectional study of patient involvement factors and issues in Japan. BMC Medical Informatics and Decision Making, doi: 10.1186/s12911-023-02208-1
[11] Kevin, Bruce, Hall., J., Lewis., Aeb, Moore., Colette, Ridehalgh. (2022). 3. The experience of persons with rotator cuff related shoulder pain performing home exercises: A qualitative study. Physiotherapy, doi: 10.1016/j.physio.2021.12.225
[12] Pinto, R., Ferreira, M., Oliveira, V., Franco, M., Adams, R., Maher, C., & Ferrreira, P. (2012). Patientenzentrierte Kommunikation ist mit einer positiven therapeutischen Allianz verbunden: eine systematische Überprüfung. J der Phsyiotherapie, 58: 77-87. https://doi.org/10.1016/S1836-9553(12)70087-5.
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