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Neues lernen und Veraltetes entsorgen

... oder Constant Personal Change Management CPCM;). Wir alle bilden uns mehr oder weniger gezielt und strukturiert weiter. Das Angebot ist vielfältig und die Flut an neuen Studien und Informationen ist gross. Nicht zu vergessen die täglichen Tweets und Posts in den sozialen Medien. So kommen wir fortwährend zu News. Aber wie haben wir es mit veraltetem Wissen? Entsorgen wir es regelmässig, so wie wir es auch mit alten Zeitungen machen?

Medizinische Leitlinien (Guidelines) stimmen nach 5 Jahren noch zu etwa 50 % (Alderson LJH, 2013). Man kann es auch so formulieren: 50% dieses Wissens ist veraltet und sollte nicht mehr angewendet werden. Nach 8 Jahren stimmen bei den medizinischen Richtlinien keine 20% der Angaben mehr. Shekelle PG (2001) empfiehlt eine Überarbeitung von Richtlinien generell alle 3 Jahre. Die erwähnten Studien selbst sind über 5 Jahre alt. Sehr wahrscheinlich muss es heute sogar schneller gehen (Densen P, 2011). 

 

Weiterbilden ja, veraltetes entsorgen? Was bedeutet das für dich persönlich?

 

Welches Erscheinungsdatum haben deine Fachbücher? Sind sie älter als 5 Jahre? Wenn du zum Beispiel die MTT Bücher von Diemer/Sutor von 2006 hast, müsstest du dir eigentlich die überarbeitete 3. Auflage von 2017 besorgen. Es besteht ein grosser Unterschied in der Aktualität dieser Auflagen. 

 

Zum Lernen und Weiterbilden gehört nicht nur neues Wissen zu erarbeiten, sondern lieb gewonnenes, aber veraltetes Wissen, zu entsorgen. Bei Büchern wortwörtlich.  Aber loslassen ist in vielen Bereichen schwierig. Man hat seinen Glauben wie Therapie und Training funktioniert. Man hat es studiert, es jahrelang Kundinnen und Kunden erzählt und es macht auch Sinn. Man liest und hört es immer wieder - die Studien, die dieses Wissen bestätigen, werden immer wieder zitiert. Man ist ja schliesslich selbst davon überzeugt also muss es doch noch richtig sein. 

 

Im Dezember 2021 hat sich Peter O'Sullivan auf Twitter gefragt, warum seine veralteten Studien immer noch zitiert werden: 

Manche Menschen bevorzugen die späteren Studien zu ignorieren - Unbehagen mit Veränderungen und sich häufenden Beweisen??

 

In diesem Tweet wundert er sich, warum seine Veröffentlichungen von vor 2000 noch immer zitiert werden. Da er sich doch über die Jahre mit der Cognitive Functional Therapy CFT weiterentwickelt und seine Sichtweise verändert hat(O'Sullivan, 2016). 

 

Noch einmal Peter O'Sullivan: «Es war eine anstrengende Entwicklung von einem enggefassten strukturellen, biomechanischen Verständnis von Schmerzen in den ersten Jahren zu einer flexiblen, personenzentrierten, biopsychosozialen Perspektive.«

Paul Hodges neuere Arbeiten haben nicht so hohe Wellen aufgeworfen, wie seine Studien über den Transversus abdominis in den 90er Jahren. Obwohl man sagen kann, dass er die Dinge heute differenzierter sieht (Reeves NP, 2019, Hodges PW, 2019).

 

Wenn Studien eine einfache Lösung nahelegen, zum Beispiel bei Rückenschmerzen den Bauch einzuziehen, dann ergeben sich daraus gut verkaufbare Konzepte. Wenn später neue Studien Fragen aufwerfen, interessiert das die Verkaufsmachinerie meist nicht. 

 

Das Entsorgen alter Ideen ist aus verschieden Gründen nicht einfach. Man verdient sein Brötchen damit, man sieht seine Glaubwürdigkeit in Gefahr, das Konzept ist Teil der persönlichen Identität, das eigene Ego steht im Weg oder man ist sich einfach nicht bewusst, dass es aktuellere Literatur gibt. 

 

ABER: Das Entsorgen gehört zum Weiterbilden dazu. Sonst kommt man nicht weiter! Nur wenn du bereit bist Altes hinter dir zu lassen kannst du Neuem eine Chance geben. Siehe dabei das Alte nicht als überflüssig an. Es war nötig, um überhaupt erst an diesen Punkt zu kommen. Aber es ist Zeit, sich davon zu trennen.

 

Hierzu ein Beispiel: Sagst du deiner Kundin auf dem Wackelbrett: Spannen Sie den Beckenboden und die Bauchmuskeln an. Oder sagst du: Halten Sie das Brett parallel zum Boden. Oder ist dir das egal? 

Was glaubst du, welche Aussage wird von der aktuellen wissenschaftlichen Literatur empfohlen? Und hat bessere Effekte?

Und auch wenn es intuitiv nicht auf der Hand liegt, es ist der zweite Satz (Wulf G, 2016). Um unsere Kundinnen und Kunden weiter zu bringen, sollten wir den ersten Satz nicht mehr sagen. 

 

“Organismen haben Systeme, die sie von Abfallstoffen befreien - Nieren, Darm, Haut usw. Jede einzelne Zell besitzt Mechanismen der Müllabfuhr. Ohne systematische, kontinuierliche Entgiftung ist kein Überleben möglich.”

Was denkst du, aus welchem Fachbuch stammt dieses Zitat? Physiotherapiebuch? Managerhandbuch? Trainingsbuch?

 

Es stammt aus einem Klassiker für Manager von Fredmund Malik. Das Buch heisst "Führen Leisten Leben". Er schlägt darin vor eine jährliche, systematische Müllabfuhr durchzuführen. Begleitet von dieser Frage: 

“Was sollte ich nicht mehr tun - weil es sich überlebt hat, weil ich über die Dinge hinausgewachsen bin, weil ich mich in eine andere Richtung entwickeln will, weil es andere und besser Methoden gibt, weil es Wichtigeres zu tun gibt, weil ich älter geworden bin und andere Prioritäten setzen muss usw.?”

 

Lege einen Ordner “Veraltet” an und verschiebe die entsprechenden Studien da hinein. Forscher wie O'Sullivan werden sich freuen und noch viel wichtiger: Deine Kundinnen und Kunden werden es dir danken.

 

Bleibe neugierig!

 

Stefan Lerch 

CoreKnowledge

+41 79 764 76 16

 


->> Stefan Lerch führt mit Jochen Glanzmann am 8. April einen Workshop zum Thema "Wissenschaftlich trainieren. Update 2022." durch. Mehr Information und Anmeldung gibt es hier.