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Talusfissur im Leichtathletiktraining - Ein Fallbeispiel

Beatrice Graf Danelli hat ihre Abschlussarbeit im Rahmen des CAS Sportphysiottherapie Rissen im Talus durch Leichtathletiktraining gewidmet. Sie beschreibt den Fall der 17jährigen Alessia, die sich im Frühjahr am Talus verletzte. In der Arbeit zeigt sie auf, wie Alessia durch effektive Reha und begleitetem Übergang zu „return to sport“ und letztlich zu „return to competition“ gebracht werden konnte. Alessia sprang an den Schweizermeisterschaften im September im Weitsprung auf den 2. Platz.

 

Vorstellung der Patientin

 

Physiotherapeutische Anamnese

Alessia D. 17 . Jahre, Gymnasiastin 5. Klasse

Leichtathletin, Weitsprung LCZ, 6x Training/Woche (12h/Woche)

Teilnahme U18 EM 2017 Grossetto (I), Schweizermeisterin 2017, 3. Platz

Hallenschweizermeisterschaften 2018, Ziel 2018: Teilnahme U20 WM im Juli in Tampere (SF)

 

Diagnose

Nicht dislozierte Talusfissur links am 20.4.2018 beim Hürdentraining im Weitsprungtraining

 

Verletzungsmechanismus

Die Verletzung geschah während des Hürdenlaufens am Freitagabend zu Beginn der Frühlingsferien (Hürdenlaufen wird als Koordinationstraining für den Weitsprung angewendet). Der Abstand der letzten Hürde war zu gering und Alessia konnte den Lauf nicht rechtzeitig abbrechen. Sie touchierte die Hürde beim Absprung mit dem Schwungbein (links) und verlor dabei das Gleichgewicht.

Alessia konnte den drohenden Sturz mit dem Schwungbein aufzufangen. Sie prallte dabei mit der linken Ferse stark auf die Bahn, konnte aber eine Distorsion des Fusses vermeiden. Nach dem Aufprall schmerzten die Ferse und der Fuss jedoch so stark, dass sich Alessia sofort zu Boden fallen liess.

 

Subjektives Problem aus Patientensicht

Schmerzen und Schwellung halten sich in Grenzen. Alessias grösste Sorgen sind:

  1. Kann sie am Trainingslager in Tenero teilnehmen (Beginn 2 Tage nach Verletzung)?
  2. Wird sie an der WM im Juli in Finnland teilnehmen können (11 Wochen nach Verletzung)?

 

Spezielle Fragen

Medikamente: normalerweise keine; jetzt 1x1g Dafalgan 4h nach Ereignis, 1x500mg Daflagan 13h nach Ereignis. Gesundheitszustand allgemein: gut, etwas müde von der Schule

 

 

Problemanalyse

 

Alessia hat sich im Freitagabendtraining beim Hürdenlaufen verletzt. Sie kann einen drohenden Sturz nach einer Hürdentouchierung mit der Ferse des linken Beines auffangen. Dabei verletzt sie sich an der linken Talusrolle. Bereits am Unfallort wird der Fuss hochgelagert, bandagiert und entlastet, es wird kurzfristig ein Coldpack aufgelegt.

Im Laufe der ersten Stunden treten Hämatome und Schwellungen im Bereich der Knöchel (med>>lat) auf. Aktive DE/PF sowie Pro/Sup sind nur geringfügig möglich, die Vollbelastung des Fusses im Stehen schmerzt. Es sind von aussen keine Abweichungen der knöchernen Strukturen am distalen Unterschenkel und am Fuss sicht- und tastbar. Auch der Kapsel-Bandapparat scheint nach beschriebenen Verletzungsmechanismus unverletzt geblieben sein (MR-Befund vom 27.4.2018 bestätigt diese Hypothese).

 

Alessia möchte zwei Tage nach dem Unfall ins Trainingslager nach Tenero mitreisen.

 

Ziele der 1. PT-Intervention vor dem Lager:

  • Schmerzreduktion durch Entlastung mittels Unterarmstützen sowie moderate Schmerzmitteleinnahme und Hochlagern des Fusses
  • Verhinderung von Folgeverletzungen mittels Ruhigstellung des Sprunggelenkes durch OSGOrthese
  • Organisation Teilnahme am Trainingslager mit angepasstem Trainingsplan (Absprache mit Trainerin, Hilfsmittel, Transport)

 

 

Körperliche Untersuchung

 

Inspektion

• Grösse: 172cm, Gewicht: 60kg

• Athletische Figur, ausgeprägte Gesäss- und Beinmuskulatur bds

• Leichte 3-bogige Skoliose (bekannt)

• Entlastet linkes Bein im Stehen, steht jedoch plantigrad mit linkem Fuss auf dem Boden

• Halbmondförmiges Hämatom am med Knöchel (ca 3cm dorso-caudal)

• Kreisrundes Ödem (7cm Durchmesser) um linken Knöchel

• Diskretes Hämatom hinter lateralem Knöchel (< 3cm)

• Diskrete Ödem um lateralen Knöchel (< 5cm)

 

Palpation

• Leicht erwärmte Haut um Bereich des OSG links

• Keine ungewöhnlichen vegetativen Zeichen (kein Schwitzen, keine Marmorierung)

• Keine ungewöhnlichen knöchernen Linien/Formen (Mittelfussknochen, Fusswurzeln, Calcaneus o.B.)

• Talusrolle sehr schmerzhaft von ventral (Intensität: 6-7)

• Malleolen: caudale Enden med und lat sind etwas schmerzhaft (Intensität: 2-3)

 

Funktionsuntersuchung linkes Bein

• Beweglichkeit, Schmerz ist limitierend:

OSG aktiv DE/PF (5/0/10)

passiv (5/0/10), Endgefühl weich elastisch

aktiv Pro/Sup in 0-Stellung (5/0/10)

passiv (5/0/10) Endgefühl weich elastisch

• keine zusätzlichen Schmerzen im Bereich der lat/med Bänder

• Zehen aktiv/passiv DE/PF frei, schmerzfrei

• Knie aktiv/passiv Flex/Ext frei, schmerzfrei

• Hüfte aktiv/passiv Flex/Ext, ABD/ADD, IR/AR frei, schmerzfrei

 

• Achillessehnentest negativ

 

• Neurologischen Untersuchungen

o Sensibilität:

Oberflächensensibilität Unterschenkel/Fuss o.B. 

Kein Ameisenlaufen

• Fusspuls vorhanden

 

Becken/LWS/ rechtes Bein o.B.

 

 

 

Aktivitätsorientierte Funktionstests

 

Momentan sind keine Beweglichkeits-, Koordinations-/ Krafttests und Assessements durchführbar, da keine Vollbelastung und keine Bewegungen im OSG erlaubt sind. Sobald Vollbelastung und full ROM erreicht werden, sind Assessements für die UE als Verlaufszeichen einsetzbar (Return to Activity, Sport, Play/Competition). Es können Umfänge der OS und US gemessen werden (li und re).

 

 

 

Physiotherapeutische Diagnose

 

Erwartungen der Patientin

  • Ideales Rehabilitationsprogramm in bisheriges Trainingsprogramm integrieren (gute Zusammenarbeit Physio-Trainerin)
  • Trainingsprogramm anpassen, um restliche körperliche Strukturen auf hohem Niveau halten zu können und damit Rehabilitationsverlauf optimieren
  • Teilnahme an Wettkämpfen ab der Wintersaison 2018/19

 

ICF

Strukturen:      Talusrolle links

Aktivität:           gehen, rennen und weitspringen sind nicht möglich

Partizipation: Trainingslager und WM-Teilnahme sind gefährdet

 

 

Prognose

Kurzfristig:

• Ab sofort nur Teilbelastung /-bewegung im schmerzfreien Bereich, Ruhigstellung und Fixation in 0-Stellung OSG,   gehen an Stöcken (15kg)

• Teilnahme am Trainingslager nach Absprache mit Trainerin ist bedingt möglich

• Trainingsplananpassung (durch Trainerin, nach Absprache)

 

Mittelfristig:

• Wiederaufnahme des normalen Trainings, Vorbereitung für Wettkampfaufnahme

• Teilnahme an der WM im Juli ist nicht möglich

 

Langfristig:

• Da keine Knorpelschädigungen und keine knöcherne Dislokation vorhanden sind, wird

vollständige Beweglichkeit und Belastbarkeit des Sprunggelenkes wieder erreicht werden können

(cave: Talusnekrose)

• Mit Beginn der Wintersaison 2018/19 Rückkehr in das Wettkampfgeschehen

 

 

Behandlungsplanung

 

Ärztliche Vorgaben (nach MR-Befund vom 27.4.2018):

• Ruhigstellung des Sprunggelenkes mit OSG-Orthese in 0-Stellung; keine Bewegungen des OSG (weder aktiv noch passiv) für 6 Wochen

• Thrombosenembolieprophylaxe für 6 Wochen;

• danach nochmalige MR-Verlaufskontrolle und dann voraussichtlich Bewegungs- und Belastungssteigerung beginnen

 

Kurzfristige Ziele (0-6 Wochen);

Entzündungsphase (0-5d), Proliferationsphase (2-21d), Beginn Remodulationsphase (14-50/60d)

• Optimierung Wundheilungsprozess durch Entlastung und Ruhigstellung nach ärztlicher Vorgabe

Reduktion Schmerzen, Schwellung, Hämatom

• Erhalten Beweglichkeit und Kraft/Koordination der umliegenden Gelenke und des restl. Körpers (2x/Wo aktive Reha, 2x/Wo passive Reha)

 

Mittelfristige Ziele (6-12 Wochen);

Remodulationsphase (14-50/60d), Maturationsphase (ab 50/60d)

• Aufbau Beweglichkeit, Koordination und Kraft (Belastungssteigerung im Rahmen der Belastbarkeitszunahme) der betroffenen Struktur OSG (Fuss/Wade/Bein/Gesäss); allgemein und vielseitig zielgerichtete Übungen

• Gehen ohne Stöcke

• Wiedereinstieg Trainingsalltag (2-4x/Woche aktive Reha und Training, 2x/Woche passive Regeneration)

• Beginn Lauf ABC, später Sprung ABC

 

Langfristige Ziele (>12 Wochen);

Maturationsphase (ab 50/60d)

• Schwerpunktverlagerung von vielseitig zielgerichteten zu sportspezifischen Übungen, Koordination/ Kraft/ Schnelligkeit

• Reintegration ins Training (4-6x/ Woche, Training, 1-2x/Woche passive Regeneration)

• Wiederaufnahme Wettkampfvorbereitung und -Teilnahme

• Teilnahme Hallen-SM Februar 2019

 

 

Massnahmen

 

Kurzfristig (0-6 Wochen)

Info und Aufklärung

Entlastung (Stöcke) und Ruhigstellung wichtig, da Talus sehr schlecht durchblutet und keine Dislokation provoziert werden soll

Umliegende Strukturen beanspruchen, Stoffwechsel und somit Wundheilung unterstützen und ggf. beschleunigen

Hauptgewicht PT: Optimale Wundversorgung, Regeneration und Krafterhalt der umliegenden Strukturen, ev allgemeine Beweglichkeitsverbesserung anstreben

 

Passive PT

• Schmerzlinderung am linken Fuss: leichte Traktionen im OSG

• Schwellung beeinflussen durch: Kompressionsstrumpf bei Bedarf, Aqua-Fit (H2O Druck),

Lymphdrainage

• Schmerzlinderung am restl. Körper durch Massage der betroffenen überlasteten Gliedmassen

und verspannter Muskulatur

• Beweglichkeit der umliegenden Gelenke und Strukturen erhalten/verbessern durch Dehnen

 

Aktive PT

• Entstauung und Stoffwechselerhöhung durch unbelastetes Bewegen des linken Beines

• Kräftigung des linken Beines unbelastet (Therabandübungen für Hüfte/Knie li)

• Rumpfkräftigung (Sit-ups, Brückenaktivit.t ohne Fersen/Fussbelastung li, Rumpfkarten mit Teilbelastung des linken Beines, Vojta)

• Kräftigung Sprungbein re (Maschine Quadriceps, Hamstrings, Wade; 1Beinstand, 1beinige Squads (gesichert))

 

Selbstmanagement:

• Gehen an Stöcken teilbelastet, wenn immer möglich Hochlagern des Beines und Entstauungsgymnastik, OSG-Othese und bei Bedarf Kompressionsstrumpf tragen

• 1x/Woche Regeneration Sprudelbad und Massagedüsen

• Heimprogramm/ angepasstes Training (Übungen können täglich durchgeführt werden, 3 Serien à 15 Wiederholungen; Kräftigung re und li Bein und Rumpf)

• 1x/Woche AquaFit (mit OSG-Bandage)

 

Mittelfristig (6-12 Wochen)

Info und Aufklärung

• MR-Kontrolle nach 6 Wochen und Besprechung: Fissur ist knöchern durchgebaut

• Ärztliche Vorgaben: Beweglichkeit darf gesteigert werden, Belastung in den nächsten 6 Wochen langsam steigern, Stöcken nur noch nach Bedarf, Beginn Vollbelastung mit Sprüngen nicht vor der 12. Woche

• Statische Assessements zur Verlaufskontrolle

• Return to Sport

 

Passive PT

• Schmerzlinderung am restl. Körper durch Massage der betroffenen überlasteten Gliedmassen und verspannter Muskulatur

• Beweglichkeit der umliegenden Gelenke und Strukturen erhalten/verbessern durch Dehnen

• Bei Bedarf passive Mobilisation des OSG/USG und der Fusswurzel- sowie der Mittelfussknochen links, passives Dehnen (Plantaraponeurpse)

 

Aktive PT

• Gangschule ohne Stöcke

• Beginn Beinachsentraining und Fussgymnastik

• Rumpfkräftigung und -stabilisation

• Beginn Krafttraining (KRS) für Beine, Gesäss und Rumpf

• Beginn Lauf ABC mit Schwerpunkt Koordination, anfangs noch keine Sprungschritte

 

Selbstmanagement

• Gehen ohne Stöcke, Distanz erhöhen

• 1x/Woche Regeneration Sprudelbad und Massagedüsen

• Heimprogramm (Übungen können täglich durchgeführt werden, 3 Serien à 15

Wiederholungen; Beinachsentraining, Lauf ABC Koordination; Beweglichkeitsverbesserung OSG)

• 1x/Woche AquaFit (ohne OSG-Bandage)

 

Langfristig (>12 Wochen)

Info und Aufklärung

• Volle Gelenksbeweglichkeit wiedererlangt

• Statische und dynamische Assessements zur Verlaufskontrolle

• Return to Sports

 

Passive PT

• Schmerzlinderung verspannter Muskulatur linkes Bein

• Bei Bedarf passive Mobilisation des OSG/USG und der Fusswurzel- sowie der Mittelfussknochen und der Plantaraponeurose links passives Dehnen

 

Aktive PT

• Rumpfkräftigung und -stabilisation

• Krafttraining Beine, Gesäss und Rumpf: Transfer ins Trainingssystem

• Ausbau Lauf ABC, jetzt auch mit Sprungschritten

• Beginn und Ausbau Sprung ABC

 

Selbstmanagement

• Heimprogramm (Übungen werden mit dem Ausbau des Trainingsumfanges reduziert; Beinachsentraining, Lauf und Sprung ABC, Dehnung der Plantaraponeurose links)

• 1x/Woche AquaFit (ohne OSG-Bandage)

Evaluation und Erfolgskontrolle

 

Während der Entzündungs- und Proliferationsphase sind Schmerzintensität, Schwellungsausmass und Hämatomgrösse sowie die Hauttemperatur Haupt-Verlaufszeichen

 

Sobald ab Mitte der Remodulationsphase (nach 6 Wochen) die volle Beweglichkeit des Sprunggelenkes wiedererlangt ist, werden diverse Assessements der unteren Extremitäten in die Evaluation und zur Verlaufskontrolle miteinbezogen.

 

Das gelegentliche Auftreten von Schmerzen im Fuss und Muskelkater während der Rehabilitation und speziell im Übergang zu retour to Sport/Play/Competition werden mit der Athletin differenziert analysiert und besprochen.

 

Das erste Weitsprungtraining in den Sand findet am 24.7.(nach 13,5 Wochen) statt. Es treten keine Komplikationen auf.

 

Mitte August stellt sich die Frage der Teilnahme an der Junioren Weitsprung Schweizermeisterschaft Anfang September.

 

Eine Teilnahme ist möglich, da es Alessia und ihrer Trainerin gelang, in den verbleibenden 3 Wochen den Anlauf und die Sprungphase wieder an das Prä-traumatische Niveau anzunähern. Alessia springt mit 5.86 m auf den 2. Platz!

 

Die Physiotherapie konzentriert sich ab dieser Phase wieder auf die Regeneration.

 

Das Wiederauftreten von anhaltenden Schmerzen im Bereich der Talusrolle würde eine sofortige MR-Verlaufskontrolle nach sich ziehen, denn Talusnekrosen sind leider eine häufige und auch bei primär gutem Verlauf nicht auszuschliessende Komplikation.

 

Beatrice Graf Danelli

079 746 71 24

trix.graf@physio-hin.ch